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Casanova in Wien anno 1796
Ein Brief von
Helmut Watzlawick
an den Herausgeber,
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und zwei Briefe an Marco Leeflang (November 2001).
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    Lieber Pablo,

    Das Buch von Alfred Meissner (Rococo-Bilder - Nach Aufzeichnungen meines Großvaters) ist ja schon sehr oft zitiert worden, vor allem die Passage über Casanova's Rolle bei der Fertigstellung des Don Giovanni. Ich habe aber bisher noch nie mit jemandem gesprochen, der es tatsächlich in der Hand hatte. Alle zitieren anscheinend nur die von Nettl veröffentlichten Auszüge.

    Nun habe ich endlich eine Ausgabe dieses Buches erwerben können (die 2. Auflage, 1876). Casanova wird mehrmals erwähnt, nicht nur im Zusammenhang mit Mozart. Eine kurze Bemerkung, die der Autor sine ira et studio macht (weil er gar kein Interesse daran haben konnte, dieses Begebnis zu erfinden), könnte für unseren akkreditierten Reisespezialisten von Interesse sein. Es geht um eine noch unbekannte Reise nach Wien, die anscheinend nach der ersten Flucht aus Dux (1795) stattfand, wahrscheinlich Mitte 1796. Ich zitiere Meissner (p. 195-196):

'...Noch einmal entwich Casanova heimlich von Dux. Der Graf war gerade auf Reisen, Casanova hatte einen Zwist mit dem Schlossverwalter und war in seiner Einbildung von einem Diener schwer beleidigt worden. Er ließ wie das erste Mal auf seiner Stube ein Abschiedsschreiben an den Grafen zurück, begab sich nach Wien, wo sich damals sein Bruder Franz, der Maler, aufhielt und stieg im 'goldenen Ochsen' ab. Sein in Dux zurückgelassenens Schreiben war ihm aber nach Wien zuvorgekommen, der Schlossinspector hatte es dahin geschickt, weil er wußte, daß der Graf demnächst dort eintreffen werde. Casanova ging indessen von einem Buchladen in den andern, um wegen Übernahme seiner Werke zu unterhandeln und beklagte sich allenthalben über die erduldete Tyrannei. Da überraschte ihn eines Tages der Buchhändler Degen mit der Nachricht: Graf Waldstein sei in Wien und wolle nicht ohne seinen Bibliothekar abreisen. Es kam zu Unterhandlungen, der Graf, der ihn wie einen Gemüthskranken beurtheilte, versprach ihm für alle in Dux erfahrene Beleidigungen eine gerechte Satisfaction und die Übernahme einer bei Dresdner Buchhändlern hängenden Schuld, auch machte er sich anheischig die Herausgabe der Memoiren seines Bibliothekars zu übemehmen, wenn derselbe sie vollendet habe und bereit sein würde, sich eine Corrigirung seines französischen Styls gefallen zu lassen. Und auf solche Bedingungen wurde abermals Frieden geschlossen. . . . '
    Dazu einige Anmerkungen:

- Joseph Vinzenz Degen (1761-1827) wurde 1790 Buchhändler (er übernahm die ehemalige Buchhandlung Krauss am Michaelerplatz) und spezialisierte sich auf französische Literatur . Berühmt - oder vielmehr berüchtigt - wurde er durch die sogenannten Jacobinerprozesse in Wien (1794-95), da er als Polizeispitzel und agent provocateur einige seiner Freunde und Bekannten mit fadenscheinigen Gründen der Justiz auslieferte.
- Der Gasthof 'goldener Ochs' in der Wiener Seilergasse galt als der beste in der Stadt. Laut Gugitz hatte Casanova diesen Gasthof schon im Dezember 1766 besucht.
- Graf Waldstein war 1796-97 mehrmals in Wien, als aktiver Offizier (Prince de Ligne sah ihn dort im Januar 1797 und bewunderte seine Husarenuniform).

    Meissner hat ohne Zweifel die Notizen seines Großvaters literarisch ausgemalt und kann nicht als präzise Quelle gelten. Der hier erwähnte Disput mit dem 'Schlossverwalter' und einem Diener ist wahrscheinlich eine Konfusion mit der von seinem Großvater erwähnten Feldkirchner-Wiederholt-Affaere, die bereits im Sommer 1793 zu Ende ging. Allerdings hatte Casanova ja immer wieder neue Klagen über die Angestellten des Schlosses, auch nach der Entlassung Feldkirchners.

    Für die Wahrscheinlichkeit dieser noch unbekannten Wienreise spräche aber ein wichtiges Argument - das 1796 von Francesco Casanova angefertigte Portrait seines Bruders. Francesco war nicht in Dux, aber in seinen Briefen vom 6. März und vom 15. Juni 1796 ist von einer geplanten Wienreise Giacomos die Rede. Francesco sah Giacomo zuletzt 1785 - hätte er das Portrait 11 Jahr später nur aus dem Gedächtnis extrapoliert, ohne seinen Bruder zu sehen ?

    Eine solche Reise hätte ja nicht lange gedauert - vielleicht eine Woche Aufenthalt plus Hin und Rückfahrt, alles zusammen nicht länger als 10 bis 14 Tage.

    Ich übergebe Ihnen hiermit dieses biographische Reiserätsel, welches ich in guten Händen weiß.

        Herzliche Grüße,

            Helmut Wtz.


(an Marco, 19.11.2001:)

    thanks for reminding me of Franz Graeffer ... His main default is a mixture of hearsay, romantic elaboration and very often feuilleton-type invention. He called them himself 'novellistisch', a kind of painter's collection of miniatures about live and people in Vienna.
    Graeffer published his stories many years before Meissner published the notes of his grandfather. Graeffer's sources on Casanova are Prince de Ligne (his texts are quoted by him verbatim several times, he also met him in person) and most probably Francesco Casanova whom he visited shortly before his death (when Graeffer was about 16 years old).
    Graeffers description of Casanova in Vienna (copied by Schmidt-Pauli) sounds all imaginary. However, his references to the supposed last visit to Vienna, to the bookseller Degen (whom Graeffer - himself a bookseller - also knew), to the hostelry and to Casanova's return with Count Waldheim may contain a grain of truth in them, possibly memories of his talk with Francesco.

    Meissner is also prone to literary elaboration (invention of entire dialogues) but more precise, quoting specific data taken from the notes of his grandfather. He no doubt read Prince de Ligne's 'Fragment' and 'Aventuros' and must have known Graeffer's collection of stories. I ignore whether he ever met Graeffer in person but doubt it. ...
    Incidentally, Meissner mentions a last meeting between his grandfather and Casanova in Prague, on 31 March 1797 (!), at a benefice concert for the singer Teresa Strinasacchi. Quite possible, since Casanova may have made a brief detour through Prague on his way to Dresden.
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(An  Marco, 23.11.2001, zu seiner Annahme, dass Graeffer ein Pseudonym von K.F.Boettiger war und dass er mit Gugitz zusammenarbeitete).

    Franz Graeffer is a good example that one cannot quite trust the Internet, their summarised data can be misleading.
    Graeffer was a well-known journalist, writer and editor in Vienna, his biography (6.1.1785-8.10.1852) and bibliography has been fully researched. He had endless battles with the Viennese censors (this was the very conservative and quite repressive period of the 'Vormaerz') but managed to publish a number of journals. He also published a quite respectable biographical dictionary, the 'Oesterreichische National-Encyklopaedie' (1835-37, 6 vols.) and a number of books.
    Gugitz was not his collaborator (he was born a quarter of a century after Graeffer's death) but the editor of a selection of Graeffer's short stories, sketches and anecdotes, 'Kleine Wiener Memoiren und Wiener Dosenstuecke' (1918), published originally as a collection in 1845-46.
Like other writers of this period, Graeffer used his own name as well as a number of pseudonyms for his articles and books. The best known was 'A.F. Rittgraeff' but he also used the names 'F.H.Contée',  and 'Jul. Boettiger'.
    Among the collaborators of one of his journals, the 'Conversationsblatt' (1819-21) we find among many others the Saxon art historian Carl August Boettiger (1760-1835), a real person whose name may have influenced the pseudonym 'Jul. Boettiger' occsionally used by Graeffer.

    Graeffers undated visit to Francesco Casanova (who lived south-west of Vienna, in the 'Bruehl') must have taken place shortly before Francesco's death, around 1801, when Graeffer was 16. The young man accompanied a lady identified by Gugitz as Elisabeth Piazza. The brief description of the visit and the conversation with Francesco is a mixture of real data (names of painters, titles and owners of paintings etc.) and of inventions drawn from prince de Ligne, the memoirs and other sources. They talk about Giacomo as if he was still alive and already well-known because of his love adventures (which nobody knew or cared about in 1801). According to Graeffer, Francesco was working on a portrait of his brother (but this portrait was finished in 1796, some 5 years before Graeffers visit) and no doubt sent to Dux. Graeffer could therefore not have seen Francesco working on it, but he may have picked up a mention of the existence of the portrait and included it later as an anecdote in his sketch.



    Ich habe die Reise in "Post Roads" aufgenommen (jetzt also 65,140 km, die Casanova zeitlebens bzw. mindestens zurücklegte).

Copyright by Helmut Watzlawick, Genf 2002.
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